Ärztliche Versorgung im ländlichen Raum
Positionspapier des BDL
1. Ausgangslage
Der demographische Wandel stellt die ländlichen Räume, neben der Überalterung der Bevölkerung und der Entvölkerung strukturschwacher Regionen, vor weitere Herausforderungen. Bis zum Jahr 2020 werden nach Angabe der Kassenärztlichen Bundesvereinigung rund 24.000 Haus- und 28.000 Fachärzte in den Ruhestand gehen. Gleichzeitig reicht der ausgebildete MedizinerInnennachwuchs nicht aus. Warum sich in Deutschland der Wandel von der Ärzteschwämme Anfang der 1990er Jahre hin zu einem Ärztemangel entwickelt hat, hat verschiedene Ursachen:
- Der medizinische Fortschritt ermöglicht heute mehr Eingriffe wofür auch mehr Personal benötigt wird.
- Durch den medizinischen Fortschritt steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung. Damit verbunden ist ein erhöhter Bedarf an hausärztlicher Versorgung.
- Es hat eine Arbeitszeitverkürzung bei den ÄrztInnen gegeben, unter anderem auch durch eine europäische Richtlinie zur Anerkennung von Bereitschaftsdiensten als Arbeitszeit.
- Es hat eine Feminisierung des Arztberufes gegeben[1]. Damit einher geht der Anstieg der Teilzeitarbeitsplätze. Damit werden mehr ausgebildete ÄrztInnen gebraucht.
- Der ärztliche Arbeitsmarkt hat sich ausdifferenziert. MedizinerInnen gehen beispielsweise auch in die Bereiche Pharmaindustrie oder Unternehmensberatungen.
- Der Anteil der ÄrztInnen die in das Ausland abwandern steigt.[2]
Gründe für den Nichteinstieg in die ärztliche Praxis[3] oder das Auswandern in das Ausland sind nach Auswertung einer Befragung:
- Die nicht leistungsgerecht empfundene Entlohnung
- Die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf mit Familie und Freizeit
- Die Belastung durch zu viele bürokratische Tätigkeiten
Verschärft stellt sich diese allgemeine Entwicklung für die ländlichen Räume dar:
- Von den aktuellen MedizinstudentInnen und AbsolventInnen sind immer weniger bereit in die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum einzusteigen, ältere HausärztInnen finden.
- Immer seltener Nachfolger für ihre Landpraxen. Damit wird die Lücke der fehlenden Hausärzte insbesondere auf dem Land immer größer. Die Gründe für junge MedizinerInnen nicht als Landarzt zu arbeiten sind vielfältig.
- Wirtschaftliche Gründe: Damit sich eine Hausarztpraxis wirtschaftlich rechnet, benötigt ein Hausarzt rund 2300 potenzielle PatientInnen im Einzugsgebiet.[4] Dies ist in den ländlichen Gebieten nicht immer gewährleistet.
- Die Residenzpflicht sah vor, dass HausärztInnen vor Ort leben müssen. In strukturschwachen Regionen ohne infrastrukturelle oder sozio-kulturelle Angebote wollen junge ÄrztInnen aus der Stadt nicht mit ihren Familien wohnen, weil zum Beispiel Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder wohnortnahe Schulen für ihre Kinder fehlen. Die Lockerung der Residenzpflicht erfolgte zu spät und hat in der Vergangenheit zu einer Verschärfung der Situation geführt.
- Der Mehraufwand durch weite Wege bei Hausbesuchen oder durch die Übernahme von zum Teil fachärztlichen Tätigkeiten[5], dem keine adäquate Vergütung gegenüber steht.
- Durch die schlechte Breitbandversorgung im ländlichen Raum sind die Möglichkeiten des Austauschs mit Kolleginnen und die Möglichkeiten der Telemedizin eingeschränkt.
2. Herausforderungen
Der Bund der Deutschen Landjugend fordert ein wohnortnahes Netz aus Haus-, Kinder- und FrauenärztInnen im ländlichen Raum. Die gesundheitliche Versorgung aller BewohnerInnen im ländlichen Raum muss verlässlich gesichert sein. Darüber hinaus muss auch die notärztliche Versorgung gewährleistet sein. Angesichts der oben beschriebenen Ausgangslage müssen deshalb zeitnah folgende Herausforderungen gelöst werden:
I. Neubedarfsplanung notwendig
Die bisherige Bedarfsplanung wurde 1993 eingeführt, um in überversorgten Regionen weitere Niederlassungen zu verhindern. Das System der Bedarfplanung ist äußerst großräumig angelegt: so kann es in manchen Landkreisen aufgrund der ungleichen Verteilung der Ärzte sogar in rechnerisch überversorgten Bereichen an einzelnen Orten eine Unterversorgungssituation geben. Die aktuelle Bedarfsplanung ignoriert dabei auch, dass die Fahrtwege zu den Ärzten in einigen Orten sehr lang sind. Diese Bedarfsplanung muss dringend überarbeitet werden. In überversorgten Gebieten müssen freiwerdende Praxen geschlossen werden und dafür neue Praxen im unterversorgten Gebieten in den ländlichen Räumen angesiedelt werden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat hierzu Vorschläge erarbeitet, die ohne zusätzliche Kosten für das Gesundheitssystem umsetzbar sind. Einen Demografiefaktor bei der Bedarfsplanung einzuführen, wie der Gemeinsame Bundesausschuss am 15.07.2010 beschlossen hat, löst das Problem für die unterversorgten Gebiete im ländlichen Raum nicht. Die Ansiedlung von Gerontologen[6] sichert kein langfristig abgesichertes Hausarztsystem in den ländlichen Räumen.
II. Initiative vor Ort
Kommunen und Landkreise müssen langfristige Planungen vornehmen und darstellen welcher Bedarf in den kommenden 20 Jahren für ÄrztInnen und FachärztInnen vor Ort besteht. In Zusammenarbeit mit den Arbeitsagenturen kann somit auf die konkreten beruflichen Perspektiven in den Regionen hingewiesen werden. Dies nützt den Regionen und fördert die Bleibeperspektiven junger Menschen.
Junge Menschen in den ländlichen Räumen gehen oft für die Ausbildung oder Studium in die Stadt. Viele von ihnen wünschen sich aber ihren Lebensmittelpunkt danach wieder in ihrer Heimat zu haben[7]. BürgermeisterInnen und Landräte sollten frühzeitig auf junge MedizinstudentInnen aus ihren Gemeinden zugehen und diese durch Stipendien und Perspektiven vor Ort frühzeitig binden. Gebraucht zu werden und eine konkrete Perspektive als junger Mediziner in seiner Heimat zu finden, stellt eine hohe Motivation für das anspruchsvolle und langwierige Studium dar. Zudem sind die jungen NachwuchsärztInnen mit dem Leben in den ländlichen Räumen vertraut. Junge ÄrztInnen sollten nach dem Studium im ländlichen Raum attraktive Wohn- und Praxisräume zu guten Konditionen zur Verfügung gestellt werden.
III. Neue Ansätze
Eine flächendeckende hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum zu ermöglichen, bedeutet innovative Ansätze mitzudenken. Um die Kosten und den Aufwand für Hausärzte zu begrenzen, können mobile PraxisassistentInnen und Gemeindeschwestern eingesetzt werden. Diese könnten unterstützt durch Möglichkeiten der Telemedizin beispielsweise Blutdruck oder Blutzuckerwerte an den Hausarzt übermitteln, so dass insbesondere ältere Menschen für die oftmals engmaschigen Kontrollen nicht ständig in die Praxis fahren müssen. Die ärztliche Diagnostik können sie allerdings nicht ersetzen.
Medizinische Versorgungszentren im ländlichen Raum können insbesondere für die fachärztliche Versorgung eine Lösung sein. Den dort angestellten ÄrztInnen bleibt das wirtschaftliche Risiko einer eigenen Praxis erspart. An diesen Versorgungszentren kann zudem der wachsende Bedarf der Teilzeitarbeit von jungen MedizinerInnen realisiert werden.
Die Einrichtung von Zweigpraxen, ambulante Sprechstunden oder auch rollende Zahnarztpraxen sind weitere mögliche Modelle. So könnte in einer zentral gelegenen Gemeinde eine Praxis von mehreren ÄrztInnen – verschiedener Fachrichtungen- an an unterschiedlichen Wochentagen genutzt werden. Wichtig bei all diesen Ideen: die Finanzierbarkeit muss gesichert sein und darf nicht an bürokratischen Hindernissen scheitern.
IV. Studium
Generell müssen ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen[8]. Eine Absenkung oder
Abschaffung des Numerus Clausus für das Studienfach Medizin ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich, da es bereits jetzt ausreichend StudienbewerberInnen gibt.
Vielmehr müssen bereits im Studium Initiativen gestartet werden, um das Image des Hausarztes zu verbessern. Es muss im Studium gelingen, die Perspektive „Hausarzt“ oder „Landarzt“ attraktiv zu vermitteln. ProfessorInnen müssen sich auch für die Nachwuchsgewinnung zuständig fühlen und motivierend wirken. Darüber hinaus muss das Studium wichtige betriebswirtschaftliche Kenntnisse vermitteln, damit die Hürde für die Übernahme eines Praxisbetriebes einfacher genommen werden kann. Die Förderung von Nachwuchsprogrammen, Stipendien oder die konkrete finanzielle Unterstützung während der Famulaturen und praktischen Jahren von jungen NachwuchshausärztInnen sind weitere denkbare Ansätze.
V. Vergütungssystem/ Anreize
Die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum wird auf Dauer nur möglich sein, wenn sich das Vergütungssystem ändert. Die Wege sind weiter, es entstehen für LandärztInnen höhere Kosten bei gleichzeitig weniger Einnahmen durch eine geringere Anzahl an PatientInnen im Einzugsgebiet. Verstärkt wird der zeitliche und räumliche Aufwand noch durch die mangelnde Facharztdichte. HausärtInnen im ländlichen Raum müssen mehr Aufgaben übernehmen als ihre städtischen KollegInnen. Für diese Hausärzte muss ein finanzieller Ausgleich geschaffen werden. Notdienste im ländlichen Raum müssen durch eine attraktivere Vergütung abgesichert werden.
Junge HausärztInnen können durch Sicherstellungszuschläge, Bonuszahlungen oder auch Investitionspauschalen oder Darlehen unterstützt werden.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie herzustellen ist auch für die medizinischen Berufe eine große Herausforderung. Nicht nur durch die vielen weiblichen Ärzte steigt der Bedarf an Teilzeitarbeit. Junge Eltern wollen neben ihrem Beruf als Arzt noch Zeit für ihre Familie haben. Die Arbeitsbelastung und Bürokratie behindert dies aber aktuell noch und führt dazu, dass immer mehr MedizinerInnen in das Ausland abwandern. Hier muss personalpolitisch reagiert werden -beispielsweise in den Krankenhäusern – durch die Entwicklung von familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen, aber auch durch den Abbau der Bürokratie.
VI. Notwendige Rahmenbedingungen vor Ort
Schulen, Kindertagesstätten, Kultur und Soziales müssen vor Ort erhalten bleiben. Um junge MedizinerInnen für das Land zu begeistern müssen Rahmenbedingungen vorhanden sein, um ihnen und ihren Familien eine Perspektive bieten zu können. Das Leben im ländlichen Raum muss für junge Menschen und ihre Familien als attraktiv erlebt werden. Eine flächendeckende Kinderbetreuung, Schulen in Wohnortnähe und Angebote der Jugendhilfe, Freizeit, Sport und Kultur sind hierfür notwendig. Darüber hinaus ist es auch erforderlich, den öffentlichen Personennahverkehr auszubauen. Kommunen, die auch in Zukunft in diese gesamte Infrastruktur investieren, verbessern ihre Standort- und Wirtschaftsperspektiven und werden darüber Fachkräfte halten oder gewinnen können.
[1] Der Anteil der Ärztinnnen an den berufstätigen Ärzten ist laut Angaben der Bundesärztekammer von 35,5% im Jahr 1995 auf 42,2 % im Jahr 2009 angestiegen.
[2] Die Mehrzahl der im Ausland tätigen deutschen Ärzte sind nach Großbritannien, in die Schweiz, in die USA sowie nach Österreich und Schweden ausgewandert.
[3] Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gibt es nach dem Studium einen Verlust von 11,6 % der MedizinabsolventInnen, die sich nicht bei den Ärztekammern anmelden.
[4] Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
[5] So beträgt der Anteil der Fachärzte in den Kernstädten 46,4%, in den Ober- und Mittelzentren 41,1% und in „sonstigen Gemeinden“ 12,5% (Kassenärztliche Bundesvereinigung)
[6] hier ist gemeint: ÄrztInnen, die spezialisiert sind für Krankheiten und Veränderungen die im Alter auftreten
[7] „Das Bleiben-Wollen am aktuellen Ort und der Region ist für die größte Gruppe das Ziel, nämlich für 83,9%.“ Landjugendstudie 2000, S. 52, Landwirtschaftsverlag, Münster
[8] Im Jahr 2009 kamen auf einen Studienplatz für die Fachrichtung Medizin 5,0 BewerberInnen.